Achim von Arnims Gedicht „Morgendliches Entzücken“

ACHIM VON ARNIM

Morgendliches Entzücken

Mir ist zu licht zum Schlafen,
Der Tag bricht in die Nacht.
Die Seele ruht im Hafen
Ich bin so froh verwacht!

Ich hauchte meine Seele
Im ersten Kusse aus,
Was ists, daß ich mich quäle,
Ob sie auch fand ein Haus!

Sie hat es wohl gefunden
Auf ihren Lippen schön,
O welche selge Stunden,
Wie ist mir so geschehn!

Was soll ich nun noch sehen?
Ach alles ist in ihr?
Was fühlen, was erflehen?
Es ward ja alles mir!

Ich habe was zu sinnen,
Ich hab, was mich beglückt;
In allen meinen Sinnen
Bin ich von ihr entzückt.

1810

 

Konnotation

In ihrer Begeisterung für die romantische Utopie von der poetischen Verwandlung der Welt schrieben die Dichterfreunde Achim von Arnim (1781–1831) und Clemens Brentano (1778–1842) viele Gedichte, die Sinnlichkeit und Reflexion, Gefühl und Gedanke miteinander zu verbinden trachteten. Dabei ist Arnim mit seinen insgesamt zweitausend Gedichten nie so populär geworden wie sein sprachmusikalisch inspirierterer Kollege. Sein Liebesgedicht von 1808/09 kann es jedoch mit den besten Texten Brentanos aufnehmen.
Ursprünglich findet sich das Gedicht an einer Schlüsselstelle von Arnims 1810 publizierten Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. Dort singt es der strahlende junge Held des Buches, der zum ersten Mal eine Frau geküsst hat, die ihm noch viel Kummer eintragen wird. Das auf den ersten Blick so leichte, volksliedhafte Gedicht suggeriert die symbiotische Verschmelzung der Seele des Ich mit den Lippen der Geliebten. Aber es bleibt ein Rest von Ungewissheit, ob die Seele wirklich „ein Haus“ auf diesen Lippen gefunden hat.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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