Adelbert von Chamissos Gedicht „Frauen-Liebe und -Leben“

ADELBERT VON CHAMISSO

Frauen-Liebe und -Leben

Seit ich ihn gesehen,
glaub’ ich blind zu sein;
wo ich hin nur blicke,
seh’ ich ihn allein;
wie im wachen Träume
schwebt sein Bild mir vor,
taucht aus tiefstem Dunkel
heller nur empor.

Sonst ist licht- und farblos
alles um mich her,
nach der Schwestern Spiele
nicht begehr’ ich mehr,
möchte lieber weinen
still im Kämmerlein;
seit ich ihn gesehen,
glaub’ ich blind zu sein. 

um 1830

 

Konnotation

Wer an das idealistische Stereotyp von der „Liebe auf den ersten Blick“ nicht glauben mag, wird sich vielleicht von Adelbert von Chamissos (1781–1838) Liederzyklus „Frauen-Liebe und -Leben“ eines Besseren belehren lassen. Hier kreist alles um den Lebensweg einer Frau, die ihrem Geliebten und Ehemann bedingungslos verfallen ist. Ihre Liebe beginnt –  im Eröffnungsgedicht des Zyklus –  mit einer Blendung, die das Feuer der Leidenschaft entzündet.
In neun Teilen entfaltet der Emigrant Chamisso in seinem um 1830 entstandenen Zyklus das Bild einer absoluten Liebe bis in den Tod. Das Ideologische dieses emphatischen Plädoyers für eine Liebe jenseits emanzipatorischer Gedanken, die sich in „Tränen unendlicher Lust“ (Kapitel 4) verzehrt, liegt in Chamissos Frauenbild. Denn belobigt und akzeptiert wird nur die Frau als sich aufopfernde Mutter: „Nur eine Mutter weiß allein“, heißt es im 7. Teil des Zyklus, „was lieben heißt und glücklich sein.“ Robert Schumann (1810–1856) hat Chamissos Liederzyklus 1840 vertont.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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