Alfred Lichtensteins Gedicht „Spaziergang“

ALFRED LICHTENSTEIN

Spaziergang

Der Abend kommt mit Mondschein und seidner Dunkelheit.
Die Wege werden müde. Die enge Welt wird weit.

Opiumwinde gehen feldein und feldhinaus.
Ich breite meine Augen wie Silberflügel aus.

Mir ist, als ob mein Körper die ganze Erde wär.
Die Stadt glimmt auf: Die tausend Laternen wehn umher.

Schon zündet auch der Himmel fromm an sein Kerzenlicht.
… Groß über alles wandert mein Menschenangesicht –

1913

 

Konnotation

Der nächtliche Großstadtflaneur, dem hier der Frühexpressionist Alfred Lichtenstein (1889–1914) ein abgründiges Porträt widmet, sucht eine elementare Erfahrung: den Rausch. Die Welt, die das lyrische Ich durchquert, ist von einer ungeheuren Weite, in die man eintauchen kann wie in ein Meer von Licht. Von Beginn an führt dieser „Spaziergang“ nicht an topografisch bestimmbare Schauplätze, sondern durch die Landschaften eines mithilfe von Drogen stimulierten Geistes.
Aus der antibürgerlich gestimmten Berliner Boheme hatten sich 1910/11 die Dichter des Expressionismus rekrutiert. Zu deren Lebensprogramm gehörte es, mit Rauscherfahrungen zu kokettieren. Der große Ironiker Alfred Lichtenstein schwärmt in diesem 1913 entstandenen Gedicht von den sensationellen Verwandlungen der Wahrnehmung, die ein drogengestütztes Bewusstsein empfindet. So wehen „Opiumwinde“ durch das Gedicht und der fantastischen Illuminationen ist kein Ende. Das lyrische Ich erlebt das mystische Einssein mit dem erweiterten Großstadtkosmos.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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