Arno Reinfranks Gedicht „Vorübergehende Siege“

ARNO REINFRANK

Vorübergehende Siege

Wir haben euch nie geliebt,
ihr goldenen Herrscher.

Euer Name allein schon
schrickt die Tauben vom Hof.

Wir feiern die Tage,
an denen Tod euch befiel.

Euere Drohungen zerflattern.
Die Wälle zerschmeißt der Wind.

Das bißchen Legende vergessen bald
wir, Kinder müheloser Freuden.

Wir leben weiter und mit uns,
die wir mehr liebten als euch.

Seht, Herrscher von Babel bis heute,
euere Siege waren vorübergehende nur.

um 1960

aus: Deutsche Lyrik – Gedichte seit 1945. Hrsg. v. Horst Bingel. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1961

 

Konnotation

Mein Auftrag lautet: Analysen / sind abzuliefern im Gedicht.“ So unmissverständlich hat der in Ludwigshafen geborene, aber schon 1955 nach England ausgewanderte Dichter Arno Reinfrank (1934–2001) seine „Poesie der Fakten“ als eine nüchtern die empirische Wirklichkeit zergliedernde Kunst beschrieben. Die rationalistische Vernunft und Logik der Wissenschaften wollte der aus politischen Gründen exilierte Dichter mit der poetischen Phantasie versöhnen.
Das um 1960 entstandene Gedicht formuliert ein eindringliches Misstrauensvotum gegen politische Herrschaft – und gegen die sich triumphal in ihrer imperialen Größe brüstenden Mächtigen. In der westdeutschen Nachkriegslyrik waren solche explizit machtkritischen Töne eher selten. Was Reinfrank hier um 1960 notiert, nimmt die literarische Politisierung im Zuge der Studentenbewegung vorweg.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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