Arnold Stadlers Gedicht „Psalm 15“

ARNOLD STADLER

Psalm 15

Herr,
wer darf in deiner Nähe sein?
Wer bei dir auf deinem heiligen Berg?

Jener,
der lebt, wie es recht ist.
Der aus ganzem Herzen die Wahrheit sagt.
Der niemals einen Menschen verleumdet.
Der seinen Freund sein lässt
Und seinen Nachbarn auch.
Der den Verwerflichen links liegen lässt,
aber allen, deren Gott der Herr ist,
zugeneigt ist.
Der die Zusagen,
die er seinen Menschen gab, hält.
Der sein Geld nicht auf Wucher ausleiht
und sich nicht bezahlen lässt
zum Schaden der Schuldlosen. 

Wer all dies beachtet,
der wird nicht untergehen.

um 2000

aus: Arnold Stadler: Die Menschen lügen. Alle. Und andere Psalmen. Aus dem Hebräischen und mit einem Nachwort von Arnold Stadler. Insel Verlag, Frankfurt a.M. 1999

 

Konnotation

Das Buch der Psalmen ist eine der ältesten Sammlungen von Gebeten, Liedern und Gedichten und wurde im Verlauf eines Jahrtausends von den unterschiedlichsten religiös inspirierten Autoren verfasst. Psalm 15 gilt in den katholischen Bibel-Exegeten als eine Art „Eröffnungsliturgie“. Imaginiert wird eine Prozession von Gläubigen, die sich an den Toren des Tempels von Jerusalem zusammendrängen und nach den Bedingungen der Gottesnähe fragen. Es folgt ein Katalog von Pflichten: z.B. die praktizierte Gerechtigkeit, die vollkommene Aufrichtigkeit der Rede, die Toleranz gegenüber Nachbarn und Freunden.
Die Kritik des Wucherzinses wurde von den Bibel-Exegeten besonders kontrovers diskutiert. Die sehr freie Psalmen-Übertragung des 1954 geborenen Schriftstellers Arnold Stadler weicht an einer Stelle von Luthers klassischer Bibel-Übersetzung stark ab. Während Stadler davon spricht, „die Verwerflichen links liegen zu lassen“, markiert Luther die Gottesnähe durch ein viel schärferes Trennungskriterium: „wer die Gottlosen nichts achtet, sondern ehret die Gottesfürchtigen“. Eine fast fundamentalistische Strenge.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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