Bertolt Brechts Gedicht „Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité“

BERTOLT BRECHT

Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité

Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité
Aufwachte gegen Morgen zu
Und die Amsel hörte, wußte ich
Es besser. Schon seit geraumer Zeit
Hatte ich keine Todesfurcht mehr. Da ja nichts
Mir je fehlen kann, vorausgesetzt
Ich selber fehle. Jetzt
Gelang es mir, mich zu freuen
Alles Amselgesanges nach mir auch.

1956

aus: Bertolt Brecht: Die Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2000

 

Konnotation

Als er im Frühjahr 1956 wegen einer Grippe stationär behandelt wird, schreibt Bertolt Brecht (1898–1956) dieses Gedicht über den Umgang mit der Todesfurcht. Er zitiert dabei einige Verse aus dem Lehrgedicht „De rerum natura“ des römischen Dichters Lukrez, das im 3. Buch von der Todesfurcht handelt.
In sachlichem Gestus zieht Brecht Bilanz: Was am Ende des Lebens bleibt, fasst er nicht in politischen Begriffen oder einer aufs Soziale zielenden Rhetorik. Es geht um eine Ich-Inventur, die auch das Erlöschen der Subjektivität gelassen hinnimmt. In der Perspektive der Todesgewissheit gibt es dennoch Anlass zur Freude: Es ist die Schönheit des Amselgesanges, die den Dichter überleben wird. Mit dieser poetischen Reflexion über den Tod, die nicht Verluste, sondern Momente der Ich-Erweiterung ins Zentrum stellt, hat Brecht selbst ein Lehrgedicht geschrieben.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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