Christian Morgensterns Gedicht „Das Knie“

CHRISTIAN MORGENSTERN

Das Knie

Ein Knie geht einsam durch die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts!
Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt!
Es ist ein Knie, sonst nichts.

Im Kriege ward einmal ein Mann
erschossen um und um.
Das Knie allein blieb unverletzt –
als wär’s ein Heiligtum.

Seitdem geht’s einsam durch die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts.
Es ist kein Baum, es ist kein Zelt.
Es ist ein Knie, sonst nichts.

1905

 

Konnotation

Eine Hauptrolle in Alexander Kluges Film Die Patriotin aus dem Jahr 1979 spielt ein Knie. Es ist das Knie des Obergefreiten Wieland, gefallen 1943 in Stalingrad. Das Knie ist im Film ein sehr aktives Objekt, es agiert als allwissender Erzähler. Erfunden hat das vereinsamte Knie der Meister der Sprachgroteske, der Dichter Christian Morgenstern (1871–1914).
Das skurrile „Knie“-Gedicht ist Bestandteil von Morgensterns Galgenliedern, die dem Dichter 1905 zu einer enormen Popularität verhalfen, die auch hundert Jahre danach noch anhält. Seine lyrische Lebenserzählung über „Das Knie“ fasziniert weniger durch humoristische Reize als vielmehr durch die tragischen Neben- und Untertöne, die in der Weltreise des einsamen Körperteils mitschwingen. Denn das vom Rest-Körper offenbar abgetrennte Knie ist ja erst durch mörderische Kriegsgeschehnisse in seine einsame Lage geraten. Morgenstern selbst hat zu seinem Gedicht angemerkt, das Knie stehe für die Zeit, die sich als primäre sinnliche Anschauung gegenüber dem Raum (dem „Um und Um“) behauptet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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