Christian Morgensterns Gedicht „Nach Norden“

CHRISTIAN MORGENSTERN

Nach Norden

Palmström ist nervös geworden;
darum schläft er jetzt nach Norden.

Denn nach Osten, Westen, Süden
schlafen, heißt das Herz ermüden.

(Wenn man nämlich in Europen
lebt, nicht südlich in den Tropen.)

Solches steht bei zwei Gelehrten,
die auch Dickens schon bekehrten –

und erklärt sich aus dem steten
Magnetismus des Planeten.

Palmström also heilt sich örtlich,
nimmt sein Bett und stellt es nördlich.

Und im Traum, in einigen Fällen,
hört er den Polarfuchs bellen.

1905

 

Konnotation

Wie diverse Weisheitslehren der Esoterik verkünden, kann man durch das angemessene Umstellen oder Verrücken von Möbeln unliebsame Energien oder Dämonen austreiben und die Schlaflosigkeit nervöser Menschen heilen. Auch ein lyrischer Lieblingsheld des hintersinnigen Humoristen Christian Morgenstern (1871–1914), der etwas weltfremde Palmström, hat sich von dieser Vorstellung faszinieren lassen.
Morgenstern selbst war ein glühender Anhänger der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners, der die Vorstellung unheilvoller dämonischer Energien nicht fremd ist. In seinem Gedicht freilich, das den 1905 erschienenen Galgenliedern entnommen ist, mokiert sich Morgenstern über die „nördliche“ Obsession seines Helden – wird dieser doch im Traum sogar vom „Polarfuchs“-Gebell heimgesucht.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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