Dieter Leisegangs Gedicht „Einsam und allein“

DIETER LEISEGANG

Einsam und allein

Einsam ist ja noch zu leben
Hier ein Ich und dort die andern
Kann durch die Alleen wandern
Und auf Aussichtstürmen schweben

Einsam ist noch nicht allein
Hat noch Augen, Ohren, Hände
Und das Spiel der Gegenstände:
Und die Trauer, da zu sein

Doch allein ist alles ein
Ist nicht da, nicht dort, nicht eben
Kann nicht nehmen oder geben
Leergelebt und allgemein

1972

aus: Dieter Leisegang: Lauter letzte Worte. Gedichte und Miniaturen, Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1980

 

Konnotation

Der Philosoph und Dichter Dieter Leisegang (1942–1973) war ein literarischer Experte für Negativität. In seiner Dichtkunst hatte er sich auf finale Zustände spezialisiert: „Meine Gedichte bestehen aus lauter letzten Worten. Schon von daher geht ein Zwang aus, mich in Kürze aufzulösen.“ 1969 hatte er bei T.W. Adorno und Julius Schaaf in Philosophie („Die drei Potenzen der Relation“) promoviert und in Frankfurt einen Lehrauftrag in Philosophie erhalten.
Leisegangs verstörende Reflexion über die gedankenlose Redewendung „Einsam und allein“ ist auf den Oktober 1972 datiert. Der Autor markiert hier eine entscheidende Differenz zwischen den nur scheinbar identischen Gefühlszuständen. Für den Einsamen gibt es noch das Spiel der Sinne, der auf das Allein-Sein Reduzierte stürzt in die Leere. Aus diesem fatalistischen Befund zog der Dichter eine radikale Konsequenz: Am 21. März 1973 schoss er sich „den ganzen Klimbim / Aus dem Hirn.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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