Durs Grünbeins Gedicht „12/11/89“

DURS GRÜNBEIN

12/11/89

Komm zu dir Gedicht, Berlins Mauer ist offen jetzt.
Wehleid des Wartens, langweile in Hegels Schmalland
Vorbei wie das stählerne Schweigen… Heil Stalin.
Letzter Monstranzen Glanz, hinter Panzern verschanzt.
Langsam kommen die Uhren auf Touren, jede geht anders.
Pech für die Kopffüßler, im Brackwasser abgesackt.
Revolutionsschrott en masse, die Massen genasführt
Im Trott von bankrotten Rotten, was bleibt ein Gebet:
Heiliger Kim Il Sung, Phönix Pjönjangs, bitt für uns.

1989

aus: Durs Grünbein: Schädelbasislektion, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1991

 

Konnotation

Zu elementaren geschichtlichen Erschütterungen braucht die moderne Poesie gewöhnlich Abstand, historische Distanz, um angemessen auf die Ereignisse reagieren zu können. Einem Ausnahmedichter wie dem 1962 geborenen Durs Grünbein, dem Bewusstseinspoeten aus Dresden, gelingen aber selbst mitten in der politischen Turbulenz außergewöhnliche Gedichte. Kurz nach der Öffnung der Berliner Mauer schrieb er das turbulenteste Gedicht zum epochalen geschichtlichen Augenblick.
Grünbeins Gedicht „12/11/89“ steht im Band Schädelbasislektion (1991) in einer Reihe von „Sieben Telegrammen“ und verweigert jede Ergriffenheit. Stattdessen setzt der Autor grelle Effekte, schmückt seine mit Reizworten aufgeladenen Verse üppig mit Binnenreimen und Alliterationen und schließt ironisch mit der Anrufung des nordkoreanischen Diktators. Es ist der Blick eines kühlen Diagnostikers, der nicht aus der Perspektive des unmittelbar Beteiligten schreibt, sondern aus der Distanz ein groteskes Theater beobachtet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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