Ernst Blass’ Gedicht „Vormittag“

ERNST BLASS

Vormittag

Den grünen Rasen sprengt ein guter Mann.
Der zeigt den Kindern seinen Regenbogen,
Der in dem Strahle auftaucht dann und wann.
Und die Elektrische ist fortgezogen

Und rollt ganz ferne. Und die Sonne knallt
Herunter auf den singenden Asphalt.
Du gehst im Schatten, ernsthaft, für und für.
Die Lindenbäume sind sehr gut zu dir.

Im Schatten setzt du dich auf eine Bank;
Die ist schon morsch; – auch du bist etwas krank –
Du tastest heiter, daß ihr nicht ein Bein birst.

Und fühlst auf deinem Herzen deine Uhr,
Und träumst von einer schimmernden Figur
Und dieses auch: daß du einst nicht mehr sein wirst.

1912

 

Konnotation

Der erste öffentliche Auftritt des promovierten Juristen und Lyrikers Ernst Blass (1890–1939) war phänomenal: Sein schmales Lyrikbändchen Die Straßen komme ich entlang geweht wurde im Jahr 1912 zum Gründungsdokument der expressionistischen Großstadtlyrik. In einer Antwort an den Kritiker Alfred Kerr (1867–1948) formulierte Blass seine Vorstellungen vom „Fortschritt“ in der Lyrik: „das Wissen um das Flache des Lebens, das Klebrige, das Alltägliche, das Stimmungslose, das Idiotische, die Schmach, die Miesheit.“
In seinem Sonett lässt Blass fast demonstrativ die gewöhnlichen Alltagsverrichtungen eines Großstädters Revue passieren: die Bewässerung des Rasens, eine Straßenbahnfahrt und die Hitze eines Vormittags. Das lyrische Ich registriert dies alles aus ironischer Distanz. In den beiden Terzetten schwenkt dann der Blick nach innen: Das Großstadt-Idyll wird „morsch“, das Bewusstsein der Vergänglichkeit tritt in den Vordergrund.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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