Ferdinand Hardekopfs Gedicht „Zwiegespräch“

FERDINAND HARDEKOPF

Zwiegespräch

Doctor Schein und Doctor Sinn
gingen ins Café;
Schein bestellte Doppel-Gin,
Sinn bestellte Tee.

Seitlich von dem Plauderzweck
Nahmen sie dabei:
Schein – verlognes Schaumgebäck;
Sinn – verlornes Ei.

Dialog ward Zaubertext,
Nekromantenspiel;
Zwieseits wurde hingehext,
Was dem Geist gefiel,

Was dem Sinn Erscheinung schien,
Was der Schein ersann.
Schein gab Sinn, und dieser ihn,
Und die Zeit verrann.

Und die Stunde kam herein
Leis’ des Dämmerlichts.
Schein verging zu Lampenschein
Sinn verging zu Nichts.

ca.1911–1916

aus: Ferdinand Hardekopf: Wir Gespenster, Dichtungen, hrsg. v. Wilfried F. Schoeller, Arche

 

Konnotation

Doctor Schein“ und „Doctor Sinn“ treten hier als besonders prachtvolle Exemplare eines bestimmten Intellektuellen-Typus auf. Als professionelle Müßiggänger, die ihre Zeit im unendlichen Caféhaus-Diskurs verrinnen lassen. Der Erfinder dieser Szene, der Dichter Ferdinand Hardekopf (1876–1954), gehörte von 1911 bis 1916 in Berlin zum innersten Zirkel der radikalen Wochenschrift Die Aktion, der wichtigsten Plattform für den literarischen Expressionismus.
Hardekopf publizierte nur drei schmale Bücher, sein „Zwiegespräch“ ist Teil seiner Sammlung mit Privatgedichten (1921). Der Pazifist zog sich 1916 in die Schweiz zurück, kehrte nach der Revolution kurz nach Berlin zurück und gründete das Kabarett Größenwahn. Aber er fand sich im „neuen“ Deutschland nicht mehr zurecht und zog endgültig ins Tessin, wo er seine Leidenschaft für die französische Kultur entdeckte. Seine „Leichtigkeit. Anmut und Ironie“, die ihm Kurt Tucholsky bescheinigte, sind in der deutschen Dichtung bis heute rare Ressourcen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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