Friederike Mayröckers Gedicht „Fotografie“

FRIEDERIKE MAYRÖCKER

Fotografie

mit seiner groszen linken Hand
bedeckt er meine grosze rechte Hand
mit seiner groszen warmen linken Hand
bedeckt er meine grosze kalte rechte Hand
ich habe meine grosze rechte kalte Hand versteckt es liegt
beschützend seine grosze linke warme Hand auf meiner flüchtigen
rechten groszen kalten Hand während
uns Stefan Moses fotografiert im Jahre 76
mit unserer je anderen groszen Hand Gesicht verdeckend
(wie Stefan Moses es verlangt) –
wir halten uns umklammert so in dieser unscheinbaren
Geste die mir im nachhinein die Träne preszt
aus meinem unsichtbaren Auge .. dein
Blutstrom flieszt in meinen Blutstrom über
dann in verwilderter Unsterblichkeit von Liebe

2003

aus: Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte, hrsg. v. Marcel Beyer, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2004

 

Konnotation

Ein Erinnerungsbild von einem großen Liebespaar: Die Hände des Dichters und der Dichterin sind übereinander gelegt, eine zarte Geste der Vereinigung, die ein Fotograf festgehalten hat. Die 1924 geborene österreichische Dichterin Friederike Mayröcker hat diese Szene ihrer Verbundenheit mit Ernst Jandl am 2. März 2003 in einem poetischen Notat verdichtet.
Im Juni 2000 hatte Friederike Mayröcker ihren Lebenspartner, Schreibverbündeten und bewährten „Ohrenbeichtvater“ Ernst Jandl verloren. Der Schmerz über diesen Verlust hat das „herzhermetische“ Schreiben der Autorin in eine neue Richtung gelenkt: zurück zu den Entbehrungen ihrer Kinderzeit und zu den Begegnungen mit dem grimmigen Skeptiker Jandl, mit dem sie vierzig Jahre in eigentümlicher Symbiose gelebt hat. Dem Liebessspiel der Hände entspricht in diesem Gedicht das Liebesspiel Mayröckers mit der Sprache.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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