Friedrich Christian Delius’ Gedicht „Hymne“

FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS

Hymne

Ich habe Angst vor dir, Deutschland,
Wort, den Vätern erfunden, nicht uns,
du mit der tödlichen Hoffnung,
du im doppelt geschwärzten Sarg,
Deutschland, was soll ich mit dir,
nichts, laß mich, geh,
Deutschland, du steinigst uns wieder,
auf der doppelten Zunge zerläufst du,
auf beiden Schneiden
des Schwerts, ich habe Angst vor dir,
Deutschland, ich bitte dich, geh,
laß mir die Sprache und geh,
du, zwischen den Zielen, verwest schon
und noch nicht tot, stirb, Deutschland,
ich bitte dich, laß uns und geh.

1964

aus: F.C. Delius: Selbstporträt mit Luftbrücke. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1992

 

Konnotation

Friedrich Christian Delius. 1943 in Rom geboren, war gerade mal 21 Jahre alt und kürzte seine beiden Vornamen noch mit F.C. ab, als er gemeinsam mit seinen kulturrevolutionären Berliner Freunden beschloss, den CDU-Staat aus den Angeln zu heben. In seinem Bedürfnis nach Abgrenzung gegen die politischen und ästhetischen Konventionen der Altvorderen verfasste er 1964 seine schroffe Absage an den staatlicherseits eingeforderten Patriotismus. In seiner Anti-Hymne wünscht er seinem geteilten Vaterland den baldigen Exitus.
Der als „Hymne“ avisierte Festgesang entpuppt sich hier als bittere politische Litanei, aus der Beschwörung wird ein Fluch. Mit der alten Technik der Repetition und Variation will das lyrische Subjekt offenbar das Unglück verheißende politische Gebilde „Deutschland“ bannen. Von 1964 an schrieb Delius einige Jahre eine vom Überschwang der Studentenbewegung beflügelte politische Dichtung, bevor sich eine Neigung zur Skepsis gegen die auch bei der Linken „verhärteten Ideologien“ durchsetzte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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