Friedrich Theodor Vischers Gedicht „Kritiker“

FRIEDRICH THEODOR VISCHER

Kritiker

Manch’ ein Richter
Ueber Dichter
Dünkt sich ein lichter,
Mehr als schlichter
Kopf
Und ist ein entfärbter
Von Halbkultur verderbter,
Zu Leder gegerbter,
Von der Natur enterbter
Tropf.

Wie: von der Natur?
Ja nun, ich meine nur:
Von der seelischen, feinen,
Nicht von der gemeinen.

1888

 

Konnotation

Die Lust am ketzerischen Aufbegehren wider die Orthodoxie hat der Theologe, Ästhetiker und Dichter Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) schon früh kultiviert. 1844 handelte er sich erheblichen Ärger mit dem pietistischen Kirchenestablishment ein, als er sich in seiner Antrittsrede zum ordentlichen Professor an der Universität Tübingen zum Pantheismus bekannte. Von den Kirchenoberen wurde ihm daraufhin für zwei Jahre die Vorlesungserlaubnis entzogen. Von der Neigung zum Spott konnte Vischer aber nie ablassen.
Die Belustigung über den Typus des Kunst-Richters und Literatur-Kritikers, von Vischer hier in einem Scherz-Gedicht seiner Lyrischen Gänge (1888) zu einer hübschen Pointe gebündelt, hat ja seit Goethes Aufforderung zum Totschlag an einem „Rezensenten“ (vgl. Lyrikkalender vom 3.1.2007) eine lange Tradition. Kaum ein Autor hat bei Rezensentenbeschimpfungen aber eine solche Leichtigkeit erreicht wie eben Vischer.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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