Gottfried Benns Gedicht „Es ist ein Garten, den ich manchmal sehe…“

GOTTFRIED BENN

Es ist ein Garten, den ich manchmal sehe
östlich der Oder, wo die Ebenen weit,
ein Graben, eine Brücke, und ich stehe
an Fliederbüschen, blau und rauschbereit.

Es ist ein Knabe, dem ich manchmal trauere,
der sich am See in Schilf und Wogen ließ,
noch strömte nicht der Fluß, vor dem ich schauere,
der erst wie Glück und dann Vergessen hieß.

Es ist ein Spruch, dem oftmals ich gesonnen,
der alles sagt, da er dir nichts verheißt –
ich habe ihn auch in dies Buch versponnen,
er stand auf einem Grab: „tu sais“ – du weißt.

1949

aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe. Band I:. Gedichte 1. In Verb. m. Ilse Benn hrsg. v. Gerhard Schuster. Klett-Cotta, Stuttgart 1986

 

Konnotation

Im Februar 1887, als Gottfried Benn (1886–1956) gerade neun Monate alt war, zog seine Familie aus Mansfeld in der Westprignitz nach Sellin in der Neumark, einem Dorfflecken im heutigen Westpolen, wo Benns Vater eine neue Pfarrstelle antrat. „Unendlich blühte der Flieder“, schreibt Benn 1934, „Akazien, der Faulbaum.“ Hier besuchte der junge Benn die Dorfschule, fuhr mit den Bauern auf den Erntewagen in die Felder, saß auf den Obstbäumen und hütete Kühe. Das 1949 entstandene Gedicht stammt aus einem Zyklus von „Vier Privatgedichten“, dem Benn den Titel „Epilog 1949“ gab.
Gleich drei zentrale Leitwörter seines Werks hat Benn in diesem Kindheitsgedicht untergebracht. Seine Vorliebe für das Farbwort „blau“, „das Südwort schlechthin“, hatte er bereits in seiner Rede über „Probleme der Lyrik“ offenbart; die „Rauschbereitschaft“ ist für Benns frühe Lyrik konstitutiv; und die wissende Existenz-Formel „Du weißt“ („Tu sais“) durchzieht die späten Gedichte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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