Gottfried Benns Gedicht „Nur zwei Dinge“

GOTTFRIED BENN

Nur zwei Dinge

Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
– ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes: Du mußt.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.

1953

aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe. Band l: Gedichte 1. In Verb. m. Ilse Benn hrsg. von Gerhard Schuster. Klett-Cotta, Stuttgart 1986

 

Konnotation

In einem seiner populärsten Gedichte aus dem Band Destillationen (1953) zieht Gottfried Benn (1886–1956) die Summe seiner Existenz: In einer Art müder Trauer spricht hier das lyrische Ich vom eigenen Dasein als einem sinnlosen Kreislauf und reduziert das Leben auf eine Schicksalsverfallenheit, die sich auf ein stoisches Ertragen der Welt beschränkt. Der von Benn in seinem Spätwerk häufig strapazierte Begriff der „Leere“ wird zur negativen geschichtsphilosophischen Formel.
Kritische Benn-Exegeten haben den Erfolg dieses Gedichts auch mit seiner Entlastungs-Funktion erklärt. Tatsächlich wird die Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Wirklichkeit der Nazi-Vergangenheit entrealisiert und auf ein „fernbestimmtes“, dem freien Willen enthobenes Handeln verschoben. In Anlehnung an die konservative Kulturkreislehre Oswald Spenglers entwirft Benn ein Programm des einsamen Standhaltens. Seine lyrischen Suggestionen einer erhabenen Melancholie haben bis heute nichts von ihrem Reiz verloren.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

1 Antwort : Gottfried Benns Gedicht „Nur zwei Dinge“”

  1. Gottfried Benn beschreibt den besonderen menschlichen Zustand, der bis dato noch nicht entschlüsselt war, aber jetzt von Jeremy Griffith erklärt ist. Man lese dazu die Erklärung unter https://www.humancondition.com/

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