Gottfried Kellers Gedicht „Am fließenden Wasser“

GOTTFRIED KELLER

Am fließenden Wasser

Ein Fischlein steht am kühlen Grund,
Durchsichtig fließen die Wogen,
Und senkrecht ob ihm hat sein Rund
Ein schwebender Falk gezogen.

Der ist so lerchenklein zu sehn
Zuhöchst im Himmelsdome;
Er sieht das Fischlein ruhig stehn,
Glänzend im tiefen Strome!

Und dieses hinwieder sieht
Ins Blaue durch seine Welle;
Ich glaube gar, das Sehnen zieht
Eins an des andern Stelle!

1845/46

 

Konnotation

Es ist ein mystischer Augenblick, in dem die Welt für einen Moment den Atem anhält – die stumme Korrespondenz zwischen zwei Tieren, die in eigentümlicher Polarität aufeinander bezogen sind. Der auf dem „kühlen Grund“ eines Flusses still stehende Fisch und der in der himmlischen Sphäre bewegungslos verharrende Falke sind durch eine unbestimmte Sehnsucht miteinander verbunden. Die Welt wird durchsichtig hin auf eine höhere Ordnung. Gottfried Keller (1819–1890) hat diesen innigen Moment festgehalten.
Das 1845/46 entstandene Gedicht ist eingebunden in einen Zyklus von Wasser-Gedichten, in dem die Durchsichtigkeit und Durchlässigkeit des Elementes Wasser zum Thema wird. Die erste Fassung des Textes, ebenfalls 1845 geschrieben, enthält noch zwei weitere Strophen, in denen Keller am Ende eine fromme Pointe von der elenden „Wurm“-Existenz des Menschen anfügt. Viel zauberhafter ist die hier vorliegende zweite Fassung, die sich auf das Zusammenspiel der beiden Geschöpfe beschränkt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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