Gottfried Kellers Gedicht „Champagner“

GOTTFRIED KELLER

Champagner

Da saßen wir Polemiker,
Es flog der Kork, wir tranken toll
Ein blaß Gebräu’ der Chemiker,
Das schäumend auf und nieder quoll.

Wir heulten, schrien und fackelten
Vom armen Proletarierpack;
Inzwischen aber wackelten
Die letzten Taler aus dem Sack.

Da plumpte uns Erledigten
Ein später Bettler scheu die Quer’ –
Wir prophezeiten, predigten,
Doch fand er keinen Stüber mehr.

Doch ohne Arg verhandelten
Wir noch sein Elend so und so,
Als wir nach Hause wandelten,
Der Weisheit für und wider froh.

1847

 

Konnotation

Der große Schweizer Dichter und Romancier Gottfried Keller (1819–1889) exponierte sich in jungen Jahren gerne als radikaler Demokrat und verfasste politische Gelegenheitsdichtung, die sich in anklägerischem Gestus gefiel. Sein 1847 entstandenes Gedicht spottet aber bereits über das wohlfeile Bramabarsieren der revolutionären Rhetorik. Die „Polemiker“ wider das System machen hier keine gute Figur.
Keller liefert hier ein scharfsinnig-genaues Porträt der systemkritischen Maulhelden, wie sie in allen Stadien des bürgerlichen Zeitalters aufgetreten sind. Das revolutionäre Gefuchtel am Stammtisch blieb stets folgenlos. Keller zeigt voll bitterem Spott, wie diese narzisstischen Oppositions-Darsteller das Elend des „Proletarierpacks“ nur instrumentalisieren, um sich in ihrer scheinbaren Radikalität in Szene setzen zu können.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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