Hans-Ulrich Treichels Gedicht „Erinnerung“

HANS-ULRICH TREICHEL

Erinnerung

Ich weiß nicht, woher ich den Apfelbaum
nehme, die Katze, den Schatten, der Großvater
saß nicht vorm Haus, und nirgendwo war da
ein Sommer, ein Schwimmbad,
kein Mädchen in Rosa und keine Kabine,
ich weiß nicht, woher ich die Brombeeren nehme,
die Frau mit der Schürze, den Mann auf dem Sofa,
das Fahrrad, das Fieber, den Fleck auf der Kachel.
Was wollten noch gleich die Schwalben am Himmel?
Wer waren die Leute am Küchentisch?

nach 2000

aus: Hans-Ulrich Treichel: Südraum Leipzig. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2007

 

Konnotation

Man hat den 1952 geborenen Lyriker und Erzähler Hans-Ulrich Treichel gelegentlich für seine lyrische Behaglichkeitssehnsucht gescholten. Tatsächlich erscheint das lyrische Subjekt dieses Autors seltsam ungefährdet, unangefochten von allen herandrängenden Krisen und Erschütterungen. Der direkt autobiografische, locker parlierende Gestus der Gedichte täuscht jedoch einen idyllisierenden Selbstgenuss nur vor.
Bei aller Friedlichkeit der poetischen Szenarien und der Leichtigkeit der Redegesten stecken Treichels Gedichte doch meist voller Beunruhigungen und Irritationen. Im Fall dieses nach 2000 entstandenen Gedichts sind es das Trügerische der Erinnerung und das Unverlässliche des Gedächtnisses, die das Selbstvergewisserungs-Spiel des lyrischen Subjekts in Frage stellen. Das Grausen angesichts des absoluten „Erinnerung“-Verlusts wird kunstvoll verborgen. Treichel behält ein beiläufiges Sprechen bei, obwohl seinem lyrischen Protagonisten das eigene Leben zerfällt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00