Heinrich Heines Gedicht „Die Jahre kommen und gehen“

HEINRICH HEINE

Die Jahre kommen und gehen

Die Jahre kommen und gehen,
Geschlechter steigen ins Grab,
Doch nimmer vergeht die Liebe,
Die ich im Herzen hab.

Nur einmal noch möchte ich dich sehen,
Und sinken vor dir aufs Knie,
Und sterbend zu dir sprechen:
Madame, ich liebe Sie!

1827

 

Konnotation

Ich werde nächstens meine Geliebte besingen“, verriet der Dichter Heinrich Heine (1797–1856) in einem Brief von 1824 einem Studienfreund, „so idealistisch ich nur kann, werde sie aber immerfort nur Sie nennen.“ Dieses lyrische Vorhaben hat Heine in einem jener Gedichte für das Buch der Lieder realisiert, die dort im Kapitel „Die Heimkehr“ zu finden sind.
Es ist schwer zu entscheiden, welches Element in diesem Gedicht die Oberhand behält: die Sentimentalität oder die Ironie. In der ersten Strophe wird man von Heine mit hübschen Trivialitäten versorgt: Alles ist vergänglich – nur die Liebe nicht. Es bleibt auch im Folgenden in der Schwebe, ob Heine mit der Platitüde nur spielt oder sie hemmungslos bedient: Jedenfalls ist es plötzlich – im Gegensatz zur Botschaft der ersten Strophe – der Liebende selbst, der von Vergänglichkeit bedroht ist. Und anstelle einer emphatischen, emotional überschäumenden Du-Lobpreisung im Schluss-Vers wechselt Heine am Ende zur distanzierten „Sie“-Anrede über – ein raffiniertes Liebes- und Sprach-Spiel.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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