Hermann Hesses Gedicht „Der Mann von fünfzig Jahren“

HERMANN HESSE

Der Mann von fünfzig Jahren

Von der Wiege bis zur Bahre
Sind es fünfzig Jahre,
Dann beginnt der Tod.
Man vertrottelt, man versauert,
Man verwahrlost, man verbauert
Und zum Teufel gehn die Haare.
Auch die Zähne gehen flöten,
Und statt daß wir mit Entzücken
Junge Mädchen an uns drücken,
Lesen wir ein Buch von Goethen.

Aber einmal noch vor’m Ende
Will ich so ein Kind mir fangen,
Augen hell und Locken kraus
Nehm’s behutsam in die Hände,
Küsse Mund und Brust und Wangen,
Zieh ihm Rock und Höslein aus.
Nachher dann in Gottes Namen
Soll der Tod mich holen. Amen.

1926/27

aus: Hermann Hesse: Die Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1953, 1977

 

Konnotation

Kurz vor Erreichen seines 50. Lebensjahres stellte sich Hermann Hesse (1877–1962) in seinem Tagebuch eine düstere Diagnose: „Ich schmeiße alles hin, mein Leben,… ich alternder Mann.“ Auch Harry Haller, die Hauptfigur seines legendären Steppenwolf-Romans (von 1927), definiert den 50. Geburtstag als entscheidende Markierung, die den Weg in den Untergang weist: „Ich nahm mir vor, dass ich an meinem 50. Geburtstag, also in zwei Jahren, das Recht haben werde, mich aufzuhängen.“
In einem Gedicht aus dem Umfeld des Steppenwolf-Romans versucht Hesse der Todesgewissheit des fünfzigjährigen Mannes zu trotzen. Das Ergebnis ist ein Text, der zwischen Düsternis und Komik changiert. Auf die Verfallssymptomatik, die in der ersten Strophe ausgebreitet wird, folgt eine erotische Wunschphantasie des Dichters, in dem die unerreichbaren jungen Mädchen sexuelle Beuteinstinkte des alternden Mannes wecken.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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