Hermann Hesses Gedicht „Leb wohl, Frau Welt“

HERMANN HESSE

Leb wohl, Frau Welt

Es liegt die Welt in Scherben
Einst liebten wir sie sehr,
Nun hat für uns das Sterben
Nicht viele Schrecken mehr.

Man soll die Welt nicht schmähen,
Sie ist so bunt und wild,
Uralte Zauber wehen
Noch immer um ihr Bild.

Wir wollen dankbar scheiden
Aus ihrem großen Spiel;
Sie gab uns Lust und Leiden,
Sie gab uns Liebe viel.

Leb wohl du Welt, und schmücke
Dich wieder jung und glatt,
Wir sind von deinem Glücke
Und deinem Jammer satt.

1944

aus: Hermann Hesse: Die Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1953, 1977

 

Konnotation

Von der Literaturkritik werden die Gedichte des Schriftstellers Hermann Hesse (1877–1962) wenig geschätzt; man wirft ihnen – nicht ganz zu Unrecht – vor, mit notorischer Simplizität zu langweilen. Andererseits hat Hesse mit seiner Kunst der Einfachheit und seinen Versen vom Alleinsein und Nichtverstandenwerden bei seinen Lesern ein Offenbarungsmoment getroffen: Hier sagt ein Dichter, was alle leiden. Auch in diesem düsteren Abschiedsgedicht, das im April 1944 entstand.
Was auf den ersten Blick wie eine naive Abschiedsrede eines lebensweisen Dichters erscheinen mag, kann auch ganz anders gelesen werden: als bitterer Kommentar eines Exil-Autors zur Zerstörung seiner alten Welt. Im April 1944, als Hesse schon viele Jahre Verleger Peter Suhrkamp von den Nationalsozialisten verhaftet und in ein Konzentrationslager verschleppt. Etwa zur gleichen Zeit erfolgten vernichtende Luftangriffe der Alliierten auf deutsche Städte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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