Herta Kräftners Gedicht „Betrunkene Nacht“

HERTHA KRÄFTNER

Betrunkene Nacht

Der Gin schmeckt gleich um elf und drei,
das Soda nur wird schaler.
Wer will, der kann mich haben
für einen alten Taler.
Mein Bräutigam, mein Bräutigam
war einer von den sieben Raben,
der flog am Haus vorbei,
da war es zwölf vorbei,
mein Bräutigam, mein Bräutigam
tat einen dunklen Schrei
und wollte seinen süßen Schnabel
an meinem Herzen laben,
da spießte ihn ein fremder Mann
auf eine Silbergabel.
Nun kann mich jeder haben
für einen alten Taler.
Das Herz, mein Freund,
ist aber nicht dabei
bei diesem Preis,
dem Herzen, Freund, wird kalt und heiß
nur bei den Zärtlichkeiten eines Raben.
Darum auch haben
meine Freunde mich ertränkt…
Versprecht, daß ihr das Glas Chartreuse verschenkt,
in dem ich schwimme als ein gelbes Ei.

1951

aus: Hertha Kräftner: Kühle Sterne. Gedichte, Prosa, Briefe. Wieser Verlag, Klagenfurt 1997

 

Konnotation

Der mit Todessehnsucht eingefärbte schwarze Existenzialismus, der schon die frühesten Gedichte der österreichischen Dichterin Hertha Kräftner (1928–1951) prägte, verfinstert auch die Texte, die sie am Ende ihres kurzen Lebens schrieb. Am 29. Juni 1951, wenige Monate vor ihrem Suizid, entwirft Kräftner das heillose Selbstporträt einer Frau, die sich, vom Geliebten verlassen und in komplizierte Liebeswirren verstrickt, zur Selbstdemütigung entschließt. Ein Zustand des wunschlosen Unglücks.
Das Märchen der Gebrüder Grimm von den „sieben Raben“ liefert hier die Matrix für die Verlassenheitsphantasien des lyrischen Subjekts. Im Märchen sind die sieben Raben unerlöste Männer, die durch einen unbedachten Wunsch in Vögel verwandelt wurden (vgl. Lyrikkalender vom 3.2.2007). Bei Hertha Kräftner verkörpern die „sieben Raben“ die Geliebten, die dem Ich reihenweise abhanden kamen oder die sich gegenseitig mit körperlicher Gewalt zusetzten. Dem Ich bleibt nur die Selbstauflösung in Alkohol und das Feilbieten des eigenen Körpers.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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