Jan Wagners Gedicht „der mann aus dem meer“

JAN WAGNER

der mann aus dem meer

man findet ihn in einem frack aus salz
und sand. ein paß aus algen, ein ensemble
von heringsmöwen hinter ihm. der nebel.

er spricht nicht, dafür läßt er am klavier die filz-
brandung hüpfen, durchs gehäuse wogen,
daß man erstaunt. die schweren epauletten
der hände, die sich auf die schultern legen;
die stunde ruhm, die ära der tabletten,

die nächte im herbst: auf den gängen treiben die pfleger
wie eisberge vorüber. in dem klinik-
garten unter den mauern ein geflacker
letzter blätter, aus dem alten schuppen,
an dem der efeu steigt, gedämpftes klingen
eines klaviers. man hält es für chopin.

2005

aus: Jan Wagner: Achtzehn Pasteten. Berlin Verlag, Berlin 2007

 

Konnotation

Das Gedicht Jan Wagners, des großen Traditionalisten unter den jungen Dichtern (er ist 1971 geboren), gewinnt seinen Stoff aus einem realen Ereignis aus dem Frühjahr 2005. „Der Mann aus dem Meer“ wurde damals auf der englischen Insel Sheppey aufgegriffen. Er war verwirrt, trug elegante Kleidung, sprach kein Wort und schien besondere Fähigkeiten im Klavierspiel zu besitzen. Nach seiner Einweisung in die Psychiatrie begann er auf einem Piano bizarre Stücke zu spielen. Genug Stoff also für eine moderne Kaspar Hauser-Geschichte. Vier Monate später wurde der junge Mann als Hochstapler entlarvt.
Der Autor selbst hat dazu angemerkt, dass sein Gedicht bereits vor der Enttarnung des „Mannes aus dem Meer“ geschrieben wurde. Aber man kann auch im Text selbst schon Hinweise auf das Fiktionale dieser Genie-Geschichte entdecken. Die Schlussverse („man hält es für chopin“) verweisen auf den süßen Schwindel, ohne die Verführungskraft der Inszenierung zu verleugnen. Einmal mehr sucht der Dichter einen ästhetischen Schwebezustand, der den poetischen Stoff nicht an die sogenannten Fakten verrät.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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