Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Von einem, dem alles danebenging“

JOACHIM RINGELNATZ

Von einem, dem alles danebenging

Ich war aus dem Kriege entlassen,
Da ging ich einst weinend bei Nacht,
Weinend durch die Gassen.
Denn ich hatte in die Hosen gemacht.

Und ich habe nur die eine
Und niemanden, wo sie reine
Macht oder mich verlacht.

Und ich war mit meiner Wirtin der Quer.
Und ich irrte die ganze Nacht umher,
Innerlich alles voll Sorgen.
Und sie hätten vielleicht mich am Morgen
Als Leiche herausgefischt.
Aber weil doch der Morgen
Alles Leid trocknet und alle Tränen verwischt –

1923

 

Konnotation

Eine schroffere Brüskierung des vaterländischen Gedankens und des militärischen Ehrbegriffs, wie sie hier der listige Leichtmatrose und subtile Reimkünstler Joachim Ringelnatz (1883–1934) riskiert, ist kaum denkbar. Während ein Großteil der deutschen Intelligenz nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg einem falschen Soldaten- und Heroismus-Ideal huldigte, ironisierte Ringelnatz in seinem 1923 erstmals publizierten Gedicht den Typus des verarmten Kriegsheimkehrers.
Die Komik der Szene wird von Ringelnatz rasch konterkariert: Es entsteht in elegischen Versen das Bild eines bettelarmen Vagabunden, der als versprengter Heimkehrer jeden sozialen Bezug verloren hat und mit keinerlei Unterstützung rechnen kann. In Gedichten wie diesem tragikomischen Gesang auf einen Verlorenen demonstriert Ringelnatz, dass er poetisch weit mehr kann als nur die unablässige humoristische Erzeugung von Heiterkeit.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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