Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Strophe“

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Strophe

GEWISS, ich wäre schon so ferne, ferne,
So weit die Welt nur offen liegt, gegangen,
Bezwängen mich nicht übermächtige Sterne,
Die mein Geschick an deines angehangen, –
Dass ich in dir nun erst mich kennen lerne:
Mein Dichten, Trachten, Hoffen und Verlangen
Allein nach dir und deinem Wesen drängt,
Mein Leben nur an deinem Leben hängt.

1784

 

Konnotation

Kurz nach seiner Ankunft in Weimar im November 1775 lernte Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) die sieben Jahre ältere Charlotte von Stein kennen, eine verheiratete adlige Hofdame – eine Begegnung mit Folgen. Der Dichter schrieb seiner Seelenfreundin, mit der er seither eine platonische Beziehung unterhielt, über 1.700 Briefe, obwohl sie sich fast täglich sahen. Goethes fluchtartige Reise nach Italien führte 1786 zum Bruch der Beziehung, erst nach 1801 kam es zu einer vorsichtigen Wiederannäherung.
Goethe schickte am 24. August 1784 aus Braunschweig eine poetische Epistel an Frau von Stein, die man nur als innige Liebeserklärung deuten kann. Denn das lyrische Subjekt hat sein Dasein in einer Ausschließlichkeit die keine Doppelexistenz mehr zulässt. Alle Emotionen, auch die poetische Tätigkeit werden auf das geliebte Du ausgerichtet – solche Gedichte sind dazu angetan, die These von der reinen Seelenfreundschaft zwischen dem berühmten Dichterpaar zu erschüttern.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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