Joseph von Eichendorffs Gedicht „Der Einsiedler (Greisenlied)“

JOSEPH VON EICHENDORFF

Der Einsiedler (Greisenlied)

Komm, Trost der Welt, du stille Nacht!
Wie steigst du von den Bergen sacht,
Die Lüfte alle schlafen,
Ein Schiffer nur noch, wandermüd,
Singt übers Meer sein Abendlied
Zu Gottes Lob im Hafen.

Die Jahre wie die Wolken gehen
Und lassen mich hier einsam stehn,
Die Welt hat mich vergessen,
Da tratst du wunderbar zu mir,
Wenn ich beim Waldesrauschen hier
Gedankenvoll gesessen.

O Trost der Welt, du stille Nacht!
Der Tag hat mich so müd gemacht,
Das weite Meer schon dunkelt,
Laß ausruhn mich von Lust und Not,
Bis daß das ew’ge Morgenrot
Den stillen Wald durchfunkelt.

1837

 

Konnotation

Die romantische Verklärung der Nacht hat in Joseph von Eichendorffs (1788–1857) erstmals 1837 veröffentlichtem Gedicht, das unter gleich zwei Titeln firmiert – „Der Einsiedler“ und „Greisenlied“ – ihre sehnsuchtvollste Form gefunden. Zwar scheinen die meteorologischen und geografischen Details des Textes nicht plausibel – so steigt die Nacht z.B. von den Tälern herauf nicht von den Bergen hinab – aber das kann die Suggestivität dieses Gedichts nicht mindern.
Die Beschwörung der stillen Nacht und des vom Meer herüberwehenden Abendlieds verbindet sich als romantische Sprachmusik mit der Anrufung der Vergänglichkeit. So richtet sich die Erwartung des Einsiedlers, der sich auf die Ankunft der letzten Dinge. Das Morgenrot, ein im Tageslauf flüchtiger Moment, wird hier als Bild für einen harmonischen Ewigkeitszustand benutzt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00