Jürgen Beckers Gedicht „Was zu erreichen ist“

JÜRGEN BECKER

Was zu erreichen ist

Die nächste Stunde. Als würde man warten. Aber
die Beschäftigungen gehen weiter, von den Altlasten wollen wir
gar nicht erst reden.

Hell genug ist es draußen. Es bedarf keiner
Aufforderung kein Motiv für den Leitartikel; ich sag dir
alles früh genug.

Es ist wirklich ganz einfach. Mit dem Rücken zur Wand,
zum Fenster, zum Bildschirm, zur Tür. Nichts mitbringen,
der Tisch bleibt jetzt leer.

1999

aus: Jürgen Becker: Journal der Wiederholungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1999

 

Konnotation

Die Gedichte Jürgen Beckers siedeln in der ästhetischen Nähe zur Tagebuchaufzeichnung, ohne dabei ihren Kunstcharakter aufzugeben. Der 1932 geborene Autor bevorzugt in seinen Gedichten ein beiläufiges, diskretes Sprechen: Erfahrungsaugenblicke der Gegenwart, Erinnerungen an die Kindheit und punktuelle Bewusstseinsreize werden eingewoben in ein „Netz der Gleichzeitigkeit“. Dabei bewegt sich das lyrische Ich, wie der Dichter selbst angemerkt hat, in einem „stockenden Geschiebe“, einem beweglichen Ineinander von Augenblicken und Jahren, Aktualitäten und Vergangenheiten.
Die Figur der „Wiederholung“ ist konstitutiv für Beckers offene Schreibweise – zielen doch seine Texte auf eine Architektur der Erinnerung. Das Eröffnungsgedicht im Journal der Wiederholungen hält indes einen flüchtigen Moment der Gegenwart fest: den transitorischen Zustand des Wartens, einer Unentschiedenheit, der Vorbereitung auf jenen Lebensaugenblick, der den Alltag unterbricht und einen existenziellen Neubeginn ermöglicht: Dieser voraussetzungslose Neuanfang ist das, „was zu erreichen ist“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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