Karl Kraus’ Gedicht „Man frage nicht, was all die Zeit ich machte“

KARL KRAUS

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.

1933

aus: Karl Kraus: Werke Bd. I, hrsg. v. Christine Koschel u.a., PiperVerlag, München 1978

 

Konnotation

34 Jahre lang hatte der Wiener Sprachkritiker, Dichter und Essayist Karl Kraus (1874–1936) im publizistischen Alleingang den Sprachverfall der bürgerlichen Öffentlichkeit seziert, bis im Januar 1933 mit Hitlers Machtergreifung in Berlin die zivile Ordnung kollabierte. Nach Hitlers Triumph verstummte Kraus, der bis dahin 887 Nummern seiner Zeitschrift Die Fackel publiziert hatte. „Mir fällt zu Hitler nichts ein“: Mit diesem Satz eröffnete er sein letztes großes Werk Dritte Walpurgisnacht, das erst nach dem Tod des Autors veröffentlicht wurde.
Auf die Nachfragen seiner Freunde, ob er denn krank sei, antwortete Kraus mit den zehn Zeilen seines berühmten Gedichts, das seine Todesahnungen mit der Vision der sich ankündigenden geschichtlichen Katastrophe synthetisierte. In einem sehr dünnen Heft der Fackel, der Nummer 888, erschien im Oktober 1933 dieses Gedicht, zusammen mit einer Grabrede von Kraus auf den Kunstkritiker Adolf Loos.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00