Karl Mickels Gedicht „Epitaph. Altenglisch“

KARL MICKEL

Epitaph. Altenglisch

Ein Narr, der fragt. Ein Narr, der Antwort gibt.
Was Wahrheit sei? Nach Wunsch und Wille je.
Was Schönheit ist? Das Auge blickt sie sich.
Was Recht? was Unrecht? Gestern dies, dann das.
Was Wirklichkeit? Du schaust die Gruft ja jetzt.
Dies sage weiter. Setz kein Wort hinzu.

1997

aus: Karl Mickel: Geisterstunde. Wallstein Verlag, Göttingen 2004

 

Konnotation

In der DDR exponierte sich der 1935 in Dresden geborene Karl Mickel (1935–2000) als ein an der Brechtschen Dialektik geschulter, aber auch skeptischer Materialist, bei dem man immer mit ästhetischen Abweichungen von der Parteilinie zu rechnen hatte. In den Gedichten seines posthum veröffentlichten Bandes Geisterstunde (2004) treibt Mickel ein ironisch-kokettes Spiel mit den Topoi der materialistischen Geschichtsphilosophie.
In seiner poetischen Grabinschrift, entstanden 1997, hat Mickel die erlösenden Antworten auf die Grundfragen der marxistischen Gesellschaftstheorie verweigert. „Schönheit“ und „Wahrheit“. „Recht“ und „Unrecht“ sind keine klar geschiedenen, zeitlos definierbaren Kategorie mehr, sondern abhängig von den Zeitläuften: „Gestern dies, dann das.“ Jede Zeile dieses in die „altenglische“ Vergangenheit verlegten „Epitaphs“ ist in zwei Hälften geteilt. Was dem Todgeweihten noch zu sagen bleibt, ist die Wiederholung einer Wahrheit aus sehr alter Zeit.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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