Karl Wolfskehls Gedicht „Ich“

KARL WOLFSKEHL

Ich

Nun muss ich krampfig an den rand geschmiegt
Das andre und mich andren ganz verlieren.
Noch wie ein schütteres flimmern ferner stadt
Noch wie blutswellenschlag abends vorm einschlaf
Noch wie den letzten liebesblick beim abschied
Abdrängen alles, nichts mehr bleibt! Wahn flamme
Versprühn, der kelch birst bittersüssen weins.
Die lippen fasern, nebelbilder, meins
Zerreisst wie todesschrei von tieren.

1927

aus: Karl Wolfskehl: Gesammelte Werke. Band 1: Dichtungen. Claassen Verlag, Hamburg 1960

 

Konnotation

Auf der Grabplatte dieses Dichters in Neuseeland stehen nur zwei Wörter: „Exul Poeta“. Das Schicksal des deutsch-jüdischen Dichters Karl Wolfskehl (1869–1948) spiegelt exemplarisch die Vertreibung des jüdischen Geistes aus Deutschland. Als „jüdisch, römisch, deutsch zugleich“ hatte sich der Dichter selbst bezeichnet, und um so bitterer erfuhr er die systematische Verbannung des „deutschen Geistes“ nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Seine lange Odyssee ins Exil begann im Frühjahr 1933, die ihn über Italien nach Neuseeland führte.
Wolfskehls literarische Sozialisation ist mit dem „Kosmiker“-Kreis um Stefan George (1868–1933) verbunden, mit dem er von 1892 bis 1919 die Zeitschrift Blätter für die Kunst herausgab. Sein Gedicht vom gefährdeten „Ich“ ist der Sammlung Der Umkreis ( 1927) entnommen – es protokolliert den Prozess seiner unaufhaltsamen Ich-Auflösung. Die Organe der Kommunikation und Weltaneignung zerfasern; der Gestaltauflösung entspricht die Auflösung der Sprache.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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