Kathy Zarnegins Gedicht „Spricht der Herr tungusisch?“

KATHY ZARNEGIN

Spricht der Herr tungusisch?

Spricht er? – Ja?
Spricht der Herr tungusisch?

Warm ist es. Hitze flutet auf und ab.
Glutdisteln blotzen
an meinen Schenkeln.
Wiederhole.
Spricht der Herr tungusisch?
Ja?
Nein?

Die Fingerkuppen samig, ach! hätte ich doch –
Dichterei und Räuberei einsam studiert.
Dass er mich abkühle, der Herr, dass der Fuss
zu Eis erklinge, Tränenklumpen geschliffener
Nächte –
spräche er, spräche er, der Herr,
bloss
tungusisch.

1990er Jahre

aus: Kathy Zarnegin: Saiten Sprünge. Gedichte. Brandes & Apsel. Frankfurt a.M. 2006

 

Konnotation

Im Norden Chinas gibt es die kleine Sprachfamilie des Tungusischen, das auch heute noch in Teilen der Mongolei und in Ostsibirien von ca. 75.000 Menschen gesprochen wird. Aber „der Herr“, den das Gedicht der 1964 in Teheran geborenen und in Basel lebenden Lyrikerin Kathy Zarnegin (geb. 1964) herbeizitiert, ist wohl nicht wegen seiner Kenntnis exotischer Sprachen von besonderem Reiz, sondern weil er das weibliche Ich des Gedichts in emotionale Turbulenzen stürzt. So lässt sich der in den 1990er Jahren entstandene Text auch als Liebesgedicht lesen.
Offenbar genügt hier die Anwesenheit des ominösen „Herrn“, um den Körper des lyrischen Ich wie auch die von ihm erfahrene Welt in verschiedene Stadien der Erhitzung und Abkühlung zu bringen. Eine ausgeglichene, stabile Betriebstemperatur der Lebenswelt kann es in diesem Erregungszustand nicht geben. So klingt die Beschwörung des „Tungusischen“ denn auch wie ein Lockruf in einer Geheimsprache. Es ist nun an dem „Herrn“, diesen Lockruf zu erhören – oder zu ignorieren.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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