Kurt Drawerts Gedicht „Kontakte“

KURT DRAWERT

Kontakte

Ich sah sie, hinter den Scheiben,
sprechen, sah, daß sie allein war,
und daß sie mich nicht sah,

und sprach. Hinter ihrem Fahrzeug,
am Straßenrand,
zwei zueinander geneigte,

sehr nackte Platanen,
dahinter die tote Fabrik,
darüber der Mond,

etwas gesplittert vom Winter.
Dann fuhr ich weiter
und ich fuhr lange ohne Erinnerung hin.

um 2000

aus: Kurt Drawert: Frühjahrskollektion, Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 2002

 

Konnotation

Alles beginnt mit einer Sekunde der tiefen Überraschung. Soeben noch angeschlossen an die Automatismen einer Autofahrt, befindet sich das lyrische Ich im Gedicht des 1956 geborenen Kurt Drawert urplötzlich im existenziellen Ausnahmezustand. Ein flüchtiger Blick genügt – und der Raum des Alltags ist verlassen und eine Verheißung blitzt auf.
Er bevorzuge, hat Drawert einmal gesagt, eine diskrete Poesie, die „jede große transzendierende Geste und Weltumschlungenheit“ meidet. In diesem um 2000 entstandenen Gedicht skizziert er in knappen Strichen eine kleine Szene, die gerade durch Aussparung jedweder Gefühlsbewegung an Intensität gewinnt. Da ist die Schaulust des Autofahrers, dessen Blick auf eine fremde Frau fällt. Das Naturzeichen der „sehr nackten Platanen“ verweist auf den ersehnten „Kontakt“ des Mannes mit der Frau. Aber das Begehren wird auf Distanz gehalten. Immer ist da die trennende Scheibe, traditionell die Fläche unzähliger narzisstischer Spiegelungen, die eine unüberwindbare Grenze setzt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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