Kurt Schwitters’ Gedicht „Banalitäten aus dem Chinesischen“

KURT SCHWITTERS

Banalitäten aus dem Chinesischen

Fliegen haben kurze Beine.
Eile ist des Witzes Weile.
Rote Himbeeren sind rot.
Das Ende ist der Anfang jeden Endes.
Der Anfang ist das Ende jeden Anfangs.
Banalität ist jeden Bürgers Zier.
Das Bürgertum ist aller Bürger Anfang.
Bürger haben kurze Fliegen.
Würze ist des Witzes Kürze.
Jede Frau hat eine Schürze.
Jeder Anfang hat sein Ende.
Die Welt ist voll von klugen Leuten.
Kluge ist dumm.
Nicht alles, was man Expressionismus nennt, ist
Ausdruckskunst.
Kluge ist immer noch dumm.
Dumme ist klug.
Kluge bleibt dumm.

1922

aus: Kurt Schwitters: Das literarische Werk. Bd. I: Gedichte. DuMontVerlag, Köln 1973ff.

 

Konnotation

Mit seiner „Merzdichtung“ hatte der Dichter, Maler, Aktionskünstler und Universalpoet Kurt Schwitters (1887–1948) die literarische Revolution des Dadaismus maßgeblich geprägt. Um 1922/23 zeigte der Dadaismus erste Erschöpfungssymptome. Schwitters reagierte darauf mit einem neuen Stil, den er als „konstruktivistisch“ verstand: Es geht dabei um die Neugruppierung einfachster Elemente, Sprachbruchstücke und Konventionen. Auch die „Banalität“ spielt darin eine zentrale Rolle. 1922 erhebt er sie in einem Gedicht zur idealen Kategorie für das Auffinden eines „unkünstlerischen Komplexes in der unkünstlerischen Welt“.
Seine bizarre Komik gewinnt das Gedicht aus der Zerlegung und paradoxen Neu-Kombination von Sprichwörtern. Schwitters, der sich zur Entstehungszeit des Gedichts intensiv mit den Weisheiten des Zen-Buddhismus befasst hatte, demonstriert die enge Affinität von tiefschürfenden Lebenswahrheiten und absoluter Banalität. Die neu entstandenen Sprichwörter beweisen absurden Witz – bis hin zur Ironisierung des Expressionismus. Die Dummheit, so zeigt Schwitters, ist auch unter „klugen Leuten“ kaum aufzuhalten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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