Ludwig Thomas Gedicht „Lied der Großindustriellen“

LUDWIG THOMA

Lied der Großindustriellen

Wir lieben dieses Vaterland!
Doch fesselt uns ein schön’res Band
Viel stärker, unvergleichlich zäh
Ans Portemonnaie.

Die Treue unserm Königshaus,
Wir hängen sie beim Sekt heraus,
Indes noch immer hat das Prae
Das Portemonnaie.

An Gott im Himmel glauben wir.
Wär Er dem Volk nicht mehr’s Panier,
Wer wüsste dann, was wohl geschäh’
Dem Portemonnaie?

So lebt sich’s gut bei dem System,
Wir ändern es auch je nachdem,
Wenn man wo einen Vorteil säh’
Fürs Portemonnaie.

um 1900

 

Konnotation

Den Satiriker und Dramatiker Ludwig Thoma (1867–1921) hat man für seine „altbayrische, derbe Lustigkeit“ geliebt. Die ihn als bayerischen Heimatschriftsteller und Lustspiel-Verfasser rubrizieren wollen, übersehen die satirische Schärfe, mit der Thoma nicht nur die Moral des wilhelminischen Bürgertums, sondern auch den Provinzialismus seiner bayerischen Landsleute attackiert hat. Der promovierte Jurist brach 1899 seine Rechtsanwalts-Karriere ab, um im Satire-Magazin Simplicissimus den chauvinistischen Zeitgeist zu ironisieren.
Thomas „Lied der Großindustriellen“, das von einer ganzen Reihe system- und religionskritischer Gedichte flankiert wird, ist vermutlich um 1900 im Umfeld satirischer Texte für den Simplicissimus entstanden. Es ist ein frühes Zeugnis für schroffe antikapitalistische Dichtkunst, die mit frischem Schwung die marxistisch inspirierte Dichtung der Vormärz-Poeten (Georg Weerth, Ferdinand Freiligrath u.a.) fortsetzt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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