Marcel Beyers Gedicht „Raps“

MARCEL BEYER

Raps

Auf einer leeren Landstraße sitzt du am Mittag hinterm
Steuer, zwei polnische Sender wechseln sich ab, in
dir spricht nichts, du meinst schon bald, du bist ganz
ohne Wörter aufgewachsen, und dann das: Raps,

hartgezeichnet, klare Linie, gestreute, dichte Rapsarbeit,
das Feld läuft an, das Bild läuft voll mit Raps, Raps
bis zur Kante, bis zum Haaransatz, randvoll mit Raps,

Rapsaugen, Rapskopf, Rapsgeräusche, kein Preßzeug,
keine Margarine, nichts als Raps.

2001/02

aus: Marcel Beyer: Erdkunde, DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2002

 

Konnotation

Alle Dinge sind mir nah“: So endet ein kurzes Gedicht des 1965 geborenen Lyrikers und Erzählers Marcel Beyer aus seinem Band Erdkunde. Dieser Vers ist als poetologische Maxime zu lesen: Beyer ist ein Autor, der seine geschichtsversessenen Gedichte ganz auf die Phänomenalität sinnlicher Realien und Details fundiert. Sein lyrisches Subjekt hat sich auf penible historische Recherche verpflichtet und fungiert als Speicherinstanz für verschiedenste Bilder und Stimmen, die der Nachgeborene aus einer unabgegoltenen Vergangenheit herüber gerettet hat.
Während der Fahrt auf einer vermutlich polnischen Landstraße droht dem lyrischen Ich der Sprachverlust, stumm lauscht es dem Gewirr unverständlicher Stimmen. Doch dann kommt ein Naturzeichen, das aus diesem zwanghaften Verstummen erlöst. Mit litaneihaften Wiederholungen wie im Gedicht „Raps“ arbeitet Beyer auch in motivverwandten Gedichten wie „Schilf“ oder „Staub“, um Naturbilder und Geschichtszeichen in eine flimmernde poetische Balance zu bringen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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