Meret Oppenheims Gedicht „Ich MUSS die schwarzen Worte der Schwäne…“

MERET OPPENHEIM

Ich MUSS die schwarzen Worte der Schwäne
aufschreiben. Die goldene Karosse am Ende der Allee
teilt sich, fällt um und schmilzt auf der
regenfeuchten Straße.
Eine Wolke bunter Schmetterlinge fliegt auf und
erfüllt den Himmel mit ihrem Getön.
Ach, das rote Fleisch und die blauen Kleeblätter,
sie gehen Hand in Hand.

um 1940

aus: Meret Oppenheim: Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1984

 

Konnotation

In den avantgardistischen Zirkeln von Paris und in den Salons der Surrealisten empfing man sie 1932/33 mit offenen Armen und ernannte sie umgehend zur „verführerischen Fee“ und „femmeenfant“. Es dauerte lange, bis sich die Schweizer Objektkünstlerin und Malerin Meret Oppenheim (1913–1985) vom zweifelhaften Nimbus, die „Muse“ der Surrealisten zu sein, lösen konnte. Die unbändige Spiellaune, mit der sie unbedeutende Alltagsgegenstände in poetische Objekte verwandelte, manifestiert sich auch in den Gedichten der Künstlerin.
Der ständigen Metamorphosen ist kein Ende in diesem um 1940 entstandenen Gedicht: Natürliche und kreatürliche Phänomene unterliegen permanenter Verwandlung und werden in kühner Kombinatorik neu zusammengesetzt. Hier schreibt ein surrealistisches Temperament, das noch ganz erfüllt ist vom Vertrauen in die poetische Qualität von Traumnotizen und in die Technik des „automatischen Schreibens“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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