Nelly Sachs’ Gedicht „Dein Name ist dir verlorengegangen…“

NELLY SACHS

Dein Name ist dir verlorengegangen
aber die Welt eilt herzu
und bietet dir schöne Auswahl an
Du schüttelst den Kopf
aber dein Geliebter
hat dir einmal die Nadel im Heuhaufen gefunden
Hörst du: er ruft dich schon –

1945/46

aus: Nelly Sachs: Die Gedichte der Nelly Sachs. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1961/1971

 

Konnotation

In einem Brief aus dem Jahr 1959 hat Nelly Sachs (1891–1970), die „Dichterin jüdischen Schicksals“, eine frühe unglückliche Liebe zu einem älteren Mann als Menetekel ihres Lebens beschrieben: „Von meinem siebzehnten Jahr ab habe ich in einem Schicksal gestanden, dessen Schmerzenssinn mir verborgen blieb.“ Als sie dann in den 1940er Jahren von der Ermordung des geliebten Mannes (dessen Name bis heute unbekannt ist) erfuhr, verfasste sie den Zyklus „Gebet für den toten Bräutigam“. Wo immer die Figur des „Geliebten“ oder des “Bräutigams“ auftaucht, ist sie verbunden mit der Idee des Göttlichen.
Der Geliebte ist auch im Gedicht „Dein Name“ präsent, als ein mit ungewöhnlichen Kräften Begabter, der scheinbar endgültig Verlorenes wiederzufinden vermag. Der Verlust des Namens, den das lyrische Ich beklagt, meint nicht nur den Verlust der Identität, sondern auch jeder Lebenskraft. Die Erinnerung an den Geliebten ist hier die einzig mögliche Form der Belebung des Ich. Der Text ist Nelly Sachs’ nachgelassenem Band Suche nach Lebenden (1971) entnommen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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