Paul Scheerbarts Gedicht „Morgentöne“

PAUL SCHEERBART

Morgentöne

Guten Morgen! schreit das Menschentier
Und mancher Schuft trinkt jetzt noch Bier.

Guten Morgen! schreit auch der Tyrann;
Früh fängt Er zu regieren an.

An den Weltrand will ich heute gahn;
Dort will ich einmal Fliegen fahn.

Guten Morgen! schreit der Kriegersmann;
Ach, der ist immerzu im Tran.

Guten Morgen! schreit man dort und hier;
Und meine Uhr schlägt schon halb vier.

Und mancher Schuft trinkt jetzt noch Bier;
Guten Morgen! schreit das Menschentier.

1909

 

Konnotation

Der aus Danzig stammende Kunstkritiker Paul Scheerbart (1863–1915), der eigentlich Bruno Küfer hieß, war 1887 nach Berlin gekommen, um die deutsche Literatur mit wundersamen architektonischen und kosmischen Phantasien zu bereichern und nebenbei das Perpetuum mobile zu erfinden.
Scheerbart gründete 1892 den Verlag deutscher Phantasten, plante den Bau eines „Weltallpalasts“ und verfasste über ein dutzend planetarisch-utopischer Romane, in denen sonderbare Flugmaschinen, Raketen oder Ballons durch den Raum schweben. Scheerbarts Bohème-Existenz war ständig von beruflichen Misserfolgen, Geldsorgen und Alkohol-Exzessen überschattet. Der selbsternannte „Kosmokomiker“ bewahrte sich aber zeitlebens eine unbändige Lustigkeit, mit der er sich über die Entbehrungen hinwegtröstete. Das Gedicht „Morgentöne“ eröffnet Scheerbarts humoristisch-skurrile Gedichtsammlung Katerpoesie (1909). Diese „Morgentöne“ sprechen in der für Scheerbart typischen antipathetischen Gestik und Schnoddrigkeit von den Folgen durchzechter Nächte, die dem gewöhnlichen „Menschentier“ wie auch dem „Tyrannen“ den klaren Kopf vernebeln.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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