Reiner Kunzes Gedicht „nachtmahl auf dem acker“

REINER KUNZE

nachtmahl auf dem acker

Wenn großvater am abend
das kräutichtfeuer schürte,
machte er die sterne,
die später über unseren köpfen standen

Wir erkannten sie wieder

Und der mond war ein armer bruder,
der zur sonne betteln ging
(manchmal bekam er etwas, manchmal nicht)

Ich wußte noch nicht, daß der mond
das vorweggenommene antlitz ist
der erde

Ich war noch nicht Adam
und großvater ähnelte gott

Damals, als ich noch vom himmel aß

1998

aus: Reiner Kunze: ein tag auf dieser erde. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1998

 

Konnotation

Diese poetische Reise in die Kindheit führt in einen Kosmos aus Märchen, Mystik und traumwandlerischer Weltaneignung. Ein die Wörter akribisch prüfender Dichter wie der 1933 in Oelsnitz/Erzgebirge geborene Reiner Kunze sucht nach einem lyrischen Sprechen von leiser Intensität, das ihm in diesem Kindheitsbild aus den 1990er Jahren auf berückende Weise gelungen ist.
Alles steht in diesem Gedicht unter dem Eindruck eines Staunens: Die Begegnung mit dem Großvater, der Blick in den Nachthimmel, das Dechiffrieren der Himmelszeichen. Kunze bewahrt in diesem Gedicht die kindliche Perspektive auf das Wunder der Schöpfung (Sonne – Mond – Sterne). Es ist ein zutiefst religiöser Blick auf den Anfang allen Daseins, der auch deshalb bewegt, weil Kunze hier auf Ausdeutungen oder Kommentierungen jeglicher Art verzichtet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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