Richard Leisings Gedicht „Abendlied“

RICHARD LEISING

Abendlied

Was geht da vor mir hin
Gen Abend lang und länger
Es ist mein schwarzer Sinn
Der wache Doppelgänger
Der geht da vor mir her
So leicht als ich bin schwer
Mein böser Bruder Sänger
Noch stummer als ich bin.

nach 1976

aus: Richard Leising: Gebrochen deutsch. Langewiesche-Brandt Verlag, Ebenhausen 1990

 

Konnotation

In den vierzig Jahren seiner literarischen Arbeit hat der 1934 in Chemnitz geborene und 1997 in Berlin gestorbene Richard Leising nicht mehr als achtzig Gedichte geschrieben und nur zwei schmale Gedichtbände publiziert. Er gehörte zu den verborgensten Dichtern in der DDR, der sich als „Diogenes im zerfallenen Gehäuse“ (Sarah Kirsch) ins Schweigen zurückzog, als er sah, dass es für ein authentisches Sprechen im SED-Staat keinen Ort mehr gab.
Erst nach der Wende wurde Leising als Lyriker öffentlich sichtbar: In dem 1990 erschienenen Band Gebrochen deutsch, der Gedichte aus zwanzig Jahren enthält, präsentiert sich ein formal ungeheuer vielseitiger Dichter. Das Gedicht über den Schatten des Ich, den Doppelgänger des eigenen fatalistischen Bewusstseins, stützt sich auf eine modernisierte Heinesche Volksliedstrophe. Der Sänger und sein Doppelgänger: Für beide erlaubt die heillose Situation nur das Verstummen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00