Sarah Kirschs Gedicht „Im Sommer“

SARAH KIRSCH

Im Sommer

Dünnbesiedelt das Land.
Trotz riesigen Feldern und Maschinen
liegen die Dörfer schläfrig
In Buchsbaumgärten; die Katzen
Trifft selten ein Steinwurf.

Im August fallen Sterne.
Im September bläst man die Jagd an.
Noch fliegt die Graugans, spaziert der Storch
Durch unvergiftete Wiesen. Ach, die Wolken
Wie Berge fliegen sie über die Wälder.

Wenn man hier keine Zeitung hält
Ist die Welt in Ordnung.
In Pflaumenmuskesseln
Spiegelt sich schön das eigne Gesicht und
Feuerrot leuchten die Felder.

1977

aus: Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005

 

Konnotation

Die Natur als unversehrtes Refugium steht hier unter Vorbehalt: Es ist das einschränkende Adverb „Noch“, das die Vorläufigkeit und reale Gefährdung der „unvergifteten“ Welt andeutet. In ihrem Gedicht aus dem Band Rückenwind von 1977 verweist die 1935 in Halle/DDR geborene Sarah Kirsch gleich in der ersten Strophe auf die industrielle Organisation der Landschaft – auf die großen landwirtschaftlichen Kollektive und „riesigen Felder und Maschinen“ ihrer ersten Heimat DDR.
Trotz aller ökologischer Warnzeichen gibt es hier noch das Magische der Natur: die fallenden Sterne, den Flug der Graugänse und der riesenhaft wirkenden Wolken, die leuchtenden Felder. Zwischen die Erfahrung des Naturzaubers fügt die Dichterin indes einen lapidaren Befund, der anzeigt, dass etwas aus dem Lot geraten ist: „Wenn man hier keine Zeitung hält / Ist die Welt in Ordnung.“ Sehr bald nach dieser lyrischen Diagnose der realen Unordnung der politischen und landschaftlichen Verhältnisse verließ Sarah Kirsch die DDR und ließ sich in Schleswig-Holstein nieder.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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