Sarah Kirschs Gedicht „Rückenwind“

SARAH KIRSCH

Rückenwind

Wie er mich jagt, sein Schrei
Mich vorwärts trägt fünfundzwanzig
Windsbräute in der Sekunde
Den ganzen Tag, am Abend, und in die Nacht.
Ich komme zur Welt ich singe vor ihm
Jubel und Lachen: die Finger
Des himmlischen Kinds auf meiner Schulter.
Und hör ich die Stimme des Einen
Von großer Schönheit
Dreht sich der Gegenwind, ich fliege
Und immer zu ihm
Klopfendesherz wie das Haus schwankt

1976

aus: Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005

 

Konnotation

Der Wind ist in diesem Gedicht der einzige verlässliche Verbündete des lyrischen Subjekts, das offenbar zwischen getrennten Welten hin- und herzufliegen scheint. Als 1976 ihr Gedichtband Rückenwind erschien. war die 1935 geborene Naturdichterin und Biologin Sarah Kirsch schon auf dem Sprung, die DDR zu verlassen. In der für sie eigentümlichen Verbindung von märchenhaften, naturmagischen und erotischen Impulsen vergegenwärtigt sie hier die große lyrische Passion für „den Einen“, vermutlich den Geliebten.
Es ist eine Liebende, die von den „Windsbräuten“ auf den großen Flug in eine andere Welt „gejagt“ wird. Das Gedicht ist literarische Resonanz auf das Grimmsche Märchen von „Hänsel und Gretel“. Denn der Wind, „das himmlische Kind“, treibt hier wie dort die Reise des Ich an. Der Lebenspartner Sarah Kirschs war zur Zeit der Niederschrift des Gedichts der Dichter Christoph Meckel, der in Westberlin lebte. Kurz nach Erscheinen des Gedichtbands und der Unterzeichnung einer Protestresolution gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann verließ Sarah Kirsch die DDR.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00