Theodor Kramers Gedicht „Die Gaunerzinke“

THEODOR KRAMER

Die Gaunerzinke

Die stillste Straße komm ich her,
im Schluchtenfluß die Otter schreit.
Mein Schnappsack ist dem Bund zu leer,
Gehöfte stehen Meilen weit.
Im Kotter saß ich gestern noch
und tret ins Tor im Abendrot
und weiß im Janker Loch um Loch
und bitte nur ganz still um Brot.

Und dem, der hart mich weist ins Land,
dem mal ich an die Wand ein Haus –
und vor das Haus steil eine Hand;
die Hand wächst übers Haus hinaus.
Hier, seht, hier bat – und bat nur stumm
– nach mir, ihr Brüder, – eine Hand
Und Einer geht ums Haus herum
und Einer setzt’s einst nachts in Brand.

1928

aus: Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte in drei Bänden. Band 1. Hrsg. von Erwin Chvojka. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997/2005

 

Konnotation

Obwohl ihn berühmte Zeitgenossen als „den stärksten österreichischen Dichter seit Georg Trakl“ anpriesen, ist Theodor Kramer (1897–1958), der Moritaten- und Balladen-Dichter aus der Wiener Vorstadt, in Deutschland ein Unbekannter geblieben. Der Sohn eines jüdischen Gemeindearztes knüpfte früh an plebejische Traditionen an und schlüpfte in seinem poetischen Debütband Die Gaunerzinke (1928) in die Rolle des unbehausten Vagabunden, der aus dem „Kotter“ (= Dorfarrest) geflohen ist, bei seiner Bitte um Brot von den saturierten Bürgern abgewiesen wird und daher seine geheimen Zeichen (= Gaunerzinken) an die Häuserwände ritzt.
Der Dichter des proletarischen Österreich, ein unabhängiger Sozialist, den die Nazis als „Hofpoeten der Demokratie“ und prototypischen Ostjuden schmähten, konnte dank einer Intervention Thomas Manns im Juli 1939 nach England entkommen, wo er seine Arbeit an derb-vitalistischen Gedichten fortsetzte. Mit seiner exzessiven Lust am Leben hat Kramer alle überkommenen Ordnungsmuster sabotiert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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