Theodor Storms Gedicht „Abends“

THEODOR STORM

Abends

Warum duften die Levkojen
so viel schöner bei der Nacht?
Warum brennen deine Lippen
so viel röter bei der Nacht?
Warum ist in meinem Herzen
so die Sehnsucht auferwacht
Diese brennend roten Lippen
dir zu küssen bei der Nacht?

um 1846

 

Konnotation

Es ist die Liebe als Passion, die Heftigkeit des Verlangens, die hier in natursymbolischer Überhöhung von Blumen-Duft und Farben-Brennen besungen wird. Vier leidenschaftlich herausgeschleuderte Fragen ins Dunkel. Für den Dichter Theodor Storm (1817–1898) hatten solche Momente einer aufglühenden Leidenschaft Seltenheitswert. Denn von Beginn an war sein Leben überschattet von unglücklichen Liebesversuchen. Bereits 1837 hatte er sich eine extrem kurzlebige Ver- und Entlobung mit der 17jährigen Emma von Kühl Fohr geleistet – es war der Anfang einer Gefühlsgeschichte des Scheiterns.
Als Storm 1846 seine Cousine Constanze Esmarch heiratete, schien sich sein Schicksal positiv zu wenden. In diese Zeit fällt auch die Entstehung seines Liebesgedichts. Doch schon kurz nach der Heirat zerstörte die Begegnung mit einer neunzehnjährigen Senatorentochter das Eheglück. Zwanzig Jahre lang probierte es Storm mit einer Strategie der Entsagung, bis er nach dem Tod seiner Frau doch noch die geliebte Dorothea Jensen heiratete – von seinem Grundgefühl der Verzweiflung hat ihn das nicht erlöst.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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