Thomas Braschs Gedicht „Der schöne 27. September“

THOMAS BRASCH

Der schöne 27. September

Ich habe keine Zeitung gelesen.
Ich habe keiner Frau nachgesehn.
Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet.
Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht.
Ich habe nicht in den Spiegel gesehn.
Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen und
mit keinem über neue Zeiten.
Ich habe nicht über mich nachgedacht.
Ich habe keine Zeile geschrieben.
Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.

nach 1974

aus: Thomas Brasch: Der schöne 27. September, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1980

 

Konnotation

Auf dem Höhepunkt ihres literarischen Ruhms in der DDR veröffentlichte die Schriftstellerin Christa Wolf 1974 eine umfangreiche Tagebuchnotiz, Dienstag, der 27. September, in der sie detailliert Auskunft gab über den Arbeitsalltag einer sozial engagierten Autorin im SED-Staat. Die lakonische Liste mit Negationen, die daraufhin Thomas Brasch (1945–2001) vorlegte, der die „sozialistische Tragödie der Dummheit“ unverschlüsselt benannte, lässt sich als poetische Gegenschrift zum mustergültigen Pflichterfüllungs-Programm Wolfs lesen.
Das Ich beschränkt sich auf kühle Unterlassungserklärungen: Das Subjekt gönnt sich weder private Vergnügungen noch nimmt es am gesellschaftlichen Leben in irgendeiner Form teil. Hier wird gleichsam die Verweigerung jedweden Aktivismus inszeniert. Aber nicht nur das politische Engagement wird in Frage gestellt, auch die kontemplative Introspektion des Ich ist erstmal außer Kraft gesetzt. Schon der Ansatz zu Sinngebung oder Identitätssuche wird torpediert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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