Thomas Rosenlöchers Gedicht „An die Klopapierrolle“

THOMAS ROSENLÖCHER

An die Klopapierrolle

Da dir Gesang nicht gegeben und deine bedeutende Rolle
häufig verschwiegen wird, sing ich, Bescheidne, dich nun.
Täglich wird an dir gerissen, stückweise spült dich, und rauschend,
zu den Schatten hinab Acheron unter die Stadt.
Aber die Stunden des Menschen, der dich erdacht hat, Hygienische,
rollen wie du dich, sich ab; siehe, er krallt seine Hand
dir ins Papier, als gälte es, eine Schlacht zu gewinnen
in dieser Stellung! Und blickt finsteren Auges dich an,
hat auf den Lippen kein Liedlein, ist mit Elise zerstritten –
Trost wird ihm niemals, doch du reinigst, ich singe dich, ihn.

um 1970

aus: Thomas Rosenlöcher: Ich lag im Garten von Kleinzschachwitz. MitteldeutscherVerlag, Halle-Leipzig 1982

 

Konnotation

Dass einem so peinlich beschwiegenen Alltagsgegenstand wie der Klopapierrolle kein Platz in der modernen Dichtung zugestanden wird, wollte der sächsische Spätromantiker Thomas Rosenlöcher (geb. 1947) nicht einsehen. Und so widmete er gleich sein allererstes Gedicht, das lange vor Erscheinen seines ersten Gedichtbands Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz (1983) geschrieben wurde, diesem Hygiene-Utensil.
Der profane Gebrauchsgegenstand wird durch die Verwendung der antiken Strophenform der Ode in fast paradox anmutender Weise poetisch aufgeladen. Im hohen Ton Hölderlins, der einst die deutsche Dichtung mit der alkäischen und asklepiadeischen Ode so unnachahmlich bereichert hat, singt der sächsische Schelm einen Hymnus auf das Gewöhnliche. Die Toilette als Portal zum mythischen Hades – auf diese eher frevelhafte Weise leistete der junge DDR-Lyriker seinen Beitrag zur Aktualisierung der Antike.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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