Unbekannter Autor Gedicht „An einen Boten“

UNBEKANNTER DICHTER

An einen Boten

Wenn du zu meim Schätzel kommst,
Sag: Ich ließ sie grüßen;
Wenn sie fraget, wie mirs geht?
Sag: auf beyden Füßen.
Wenn sie fraget: ob ich krank?
Sag: ich sey gestorben;
Wenn sie an zu weinen fangt,
Sag: ich käme morgen.

um 1778

aus: Des Knaben Wunderhorn

 

Konnotation

Der Heimkehrer, der hier einem Boten einen heiklen Auftrag erteilt, scheint makabre Scherze zu lieben. Vielleicht ist es ein in die Heimat zurückkehrender Soldat, der kundtun will, dass er unversehrt, „auf beyden Füßen“, das Gemetzel überstanden hat. Seltsamerweise schließt sein Auftrag mit ein, die Liebste, das „Schatzel“, in Furcht und Schrecken zu versetzen. Denn der Heimkehrer lässt ja die Nachricht von seinem vorzeitigen Ableben überbringen.
Das schlichte, durch die Wiederholungen der Anfangswörter straff strukturierte Lied, das Achim von Arnim und Clemens Brentano 1806 in ihre Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn aufnahmen, stammt vermutlich von dem westfälischen Historiker und Dichters Justus Möser (1720–1794) und ist um 1778 entstanden. Einige Jahre später hat es sich der berühmte englische Dichter Samuel Taylor Coleridge (1772–1834) als „Westphalian Song“ anverwandelt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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