Unbekannter Autor Gedicht „Spruch gegen den Nachtmahr“

UNBEKANNTER DICHTER

Spruch gegen den Nachtmahr

Nachtmahr, du böses Tier,
Komme mir in der Nacht nicht hier.
Alle Wasser sollst du durchwaten,
Alle Bäumchen sollst du abblättern,
Alle Blümchen sollst du abpflücken,
Alle Grübchen sollst du auslecken,
Alle Sträucher sollst du durchkriechen,
Alle Pfützchen sollst du aussaufen,
Alle Hälmchen sollst du zählen.
Komm mir in der Nacht nicht quälen.

10. Jahrhundert

 

Konnotation

Der „Nachtmahr“ wird in mittelalterlichen Zeugnissen als ein koboldartiges, tierhaftes Geschöpf oder als ein quälender Geist beschrieben, der schlafende Menschen heimsucht und ihnen Alpträume verursacht. Ursprung ist das althochdeutsche Wort „mara“, das eigentlich „zerstoßen“ bedeutet. Aus dem 10. Jahrhundert stammt der Bannspruch eines unbekannten Dichters, der dem „Nachtmahr“ Einhalt gebieten will und ihm daher zeitraubende Aufgaben auferlegt.
Wie auf zahlreichen Bilddarstellungen des Mittelalters erscheint der „Nachtmahr“ in diesem Bannspruch als „böses Tier“, gegen das nur außergewöhnliche Mittel helfen. Hier ist es eine List, die den bösen Schlafräuber fernhalten soll. Seine Energie wird auf das sinnlose Nummerieren, Inventarisierung oder Konsumieren von Naturphänomenen abgelenkt. Dieser Bannspruch veranschaulicht auch den historischen Ursprung von Gedichten – es waren Zaubersprüche, die Krankheit und Katastrophen verscheuchen sollten.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00